Schlagwort-Archive: Charles Perry

Rāshtā: Eintopf mit selbstgemachten Nudeln – ein Gericht aus dem Baghdad des 13. Jahrhunderts

Experimentelle Archäologie, noch nie genutzte Zutaten, ein Gericht mit nur einem Gewürz und einer Prise Zeitdruck - was kann da schon schief gehen? 😅

Rashta: Eintopfrezept mit Nudeln aus dem Baghdad des 13. Jahrhunderts

Das Ergebnis war ein überraschend köstlicher, dicker Fleischeintopf mit selbstgemachten Nudeln - genau das richtige für einen grauen Februartag.
Ich widme mich derzeit wieder vermehrt dem Nachbau historischer Rezepte, besonders haben es mir da ja arabische Kochbücher angetan. (Mehr dazu auf meinem Insta-Account "Theophanu's Cauldron", auf dem dazugehörigen Foodblog gibt es die Texte dann auf Englisch.) Denn weit bevor Europäer*innen einen Federkiel in die Hand nahmen, um ihre Rezepte festzuhalten, gab es hier eine große Kochbuchtradition, die besonders an den Höfen gepflegt wurde (Lies: Sultan und seine Cronies sammelten Kochbücher und haben da auch Rezeptevents abgehalten). Kochen war also "in" und die arabischen Länder waren die Influencer ihrer Zeit. Gerichte, Geschirr und Gewürze inspirierten zum Beispiel eben auch sehr stark die mittelalterliche deutsche Kochkunst. Und so ist es kein Wunder, dass es Schriften, wie das "Scents and Flavors"* gibt, das punktgenau alles rund um Festmähler abhandelt - bis hin zu duftigen Mittelchen, damit sich die Gäste auch wohlfühlen.

Chana Dal - geschälte, gespaltene Kichererbsen

Rishta/Rashta - dicker Eintopf mit Nudeln und Hülsenfrüchten

Heute liegt mein Augenmerk aber auf einem Kochbuch des 13. Jahrhunderts, das aus Baghdad stammt und hier im Foodblog auch schon öfter Erwähnung fand: A Baghdad Cookery Book* (Kitab al-Ṭabīkh - das Buch der Gerichte) im Jahr 1226 verfasst von einem Schreiber namens Muḥammad bin al-Ḥasan bin Muḥammad bin al-Karīm al-Baghdadi - kurz Al-Baghdadi genannt - und in der Übersetzung von Charles Perry. (Es gibt eine erste englische Übersetzung von 1939 von A. J. Arberry, die zu ihrer Zeit bahnbrechend war, aber stellenweise Fehlübersetzungen enthält. Dennoch eine spannende Lektüre, gerade im Vergleich zu Perrys Version. Die Übersetzung ist in dem Sammelband "Arab Medieval Cookery"* enthalten.)
Al-Baghdadi berichtet im Vorwort, dass seine Leidenschaft eben gutes Essen ist, laut ihm hat er die Rezepte nach seinen persönlichen Vorlieben zusammengestellt. Die Gerichte sind ein wenig frugaler als in "Scents and Flavors", aber die enge Verwandtschaft ist deutlich erkennbar. Viele Gerichte leben, in etwas veränderten Fassungen, auch noch heute in der pan-arabischen Küche weiter. Wie auch das Gericht Rishta bi Adds, einen dicken Linsen-Nudel-Eintopf den ich vor einigen Jahren hier auch schon als vegetarisches Rezept vorgestellt habe. Jetzt halt in der Baghdad-Originalversion mit Fleisch.

"Rāshtā. The way to make it is to cut fat meat medium and put it in the pot. Put on water to cover, a stick of cinnamon, a little salt, a handful of peeled chickpeas and half that much of lentils. Boil it until it is done. Then add more water and bring it to a full boil. Then throw (in) rāshtā, which is dough kneaded hard and rolled thin, then cut into fine thongs four finger-widths long. Then kindle the fire under it until it has thickened smoothly. When it has grown quiet on a gentle fire a while, take it up.

[It is made from strongly kneaded unleavened dough which is made like thongs and put in water and cooked with or without meatl From the Minhāj.]



"A Baghdad Cookery Book", tranlasted by Charles Perry, Chapter II. On plain dishes according to [their variety, Rāshtā, S. 48

Meine Übersetzung: "Rāshtā. Die Art und Weise es zuzubereiten besteht darin, fettes Fleisch in mittelgroße Stücke zu schneiden und in den Topf zu geben. Gib so viel Wasser dazu, dass alles bedeckt ist, sowie eine Zimtstange, etwas Salz, eine Handvoll geschälte Kichererbsen und halb so viele Linsen. Koch es, bis es fertig ist.
Dann füge mehr Wasser hinzu und bring alles stark zum Kochen. Wirf jetzt die Rāshtā hinein, welche aus einem stark gekneteten und dünn ausgerollten Teig bestehen, der dann in feine Streifen von vier Fingerbreiten Länge geschnitten wird. Anschließend das Feuer darunter anfachen, bis es gleichmäßig eingedickt ist. Wenn es auf einem sachten Feuer eine Weile ruhig geworden ist, kann es serviert werden.

[Es besteht aus stark geknetetem, ungesäuertem Teig, der wie Riemen geformt, in Wasser gelegt und mit oder ohne Fleisch gekocht wird. Aus dem Minhāj.]"

Rashta - eine mittelalterliche, dicke Nudelsuppe nach 800 Jahre altem Rezept aus BaghdadRindfleisch für mittelalterlichen Eintopf Rashta

Überlegungen und Beobachtungen zum mittelalterlichen Rezepttext

  • Ich hatte angenommen, dass mir weitere Gewürze und vor allem Zwiebeln stark geschmacklich fehlen würden und war angenehm positiv überrascht. Der Eintopf war erstaunlich aromatisch. Die zugegebenen Kichererbsen und Linsen scheinen eher Geschmacksträger und Konsistenzgeber, da durch die Kochzeit recht zerfallen. Es soll keine dünne Nudelsuppe sein, sondern ein richtig dicker, sämiger Eintopf mit starkem Fleischgeschmack und den (verdammt guten - sorry, Selbstlob muss auch mal sein) Nudeln als den Stars. Bleibt er länger stehen, verschwindet die Flüssigkeit fast gänzlich.
  • Ich verwende Chana Cal, geschälte, halbierte Kichererbsen. Korrekter wären wohl ganze, geschälte Kichererbsen, die ich allerdings nicht bekommen konnte. Da sie eh zerkochen, ist es wohl marginal. Wer welche nutzt, sollte allerdings Einweich- und Kochzeit hochsetzen. (Und ja, wir haben hier verschiedene Hände voll mit Kichererbsen gehabt und abgewogen. 😅)
  • Im Rezept wird erwähnt, dass eine Zimtstange mit in den Topf soll. Meine Zimtstangen waren allerdings eher schmalbrüstig. Im Vorwort (S. 28) weist der Autor darauf hin, wie dick, stark eingerollt und beißend-duftend die verwendeten Zimtstangen sein sollen. Deswegen wanderten zwei Stück in den Topf - immerhin das einzige Gewürz neben Salz.
  • Apropos Salz: Hier wandert am Anfang Salz in den Topf, ich behalte mir vor, die Brühe nochmals nachzusalzen, kurz bevor die Nudeln hineinwandern. Ich verwendete feines Meersalz, der Autor liebt Steinsalz (was wahrscheinlich etwas mit dem Reinheitsgrad zu tun hat). Wer authentisch Steinsalz verwenden möchte, sollte evtl. die Salzmenge ein kleines wenig nach unten korrigieren.
  • Nicht lachen, ja ich verwende tatsächlich Entrecôte, da mir Suppenfleisch oder Tafelspitz als zu mager erschienen und ich ein zartes Fleisch wollte. Hat hervorragend geklappt - aber sicherlich könnte eins auch zu einem gut durchwachsenen, günstigeren Fleisch greifen. Vorschläge nehme ich gerne entgegen.
  • In der Einleitung (S. 29) erwähnt Al-Baghdadi, dass es grundlegende Technik ist, die Brühe nach dem ersten Aufkochen abzuschäumen - wie wir es ja heutzutage auch noch kennen.
  • Dort wird ebenfalls mit Bezug auf dieses Kapitel erwähnt, dass das Fleisch vorher gewaschen und gesalzen werden soll - was ich bei heutigen Hygienestandards nicht für nötig erachte. Das Fleisch sollte auch in Fett angebraten und dann gekocht werden. Tatsächlich geht er so in fast allen in diesem Kapitel erwähnten Eintopfrezepten vor, nur in diesem hier explizit nicht. Ich habe mir darüber etwas den Kopf zerbrochen und mich dann entschieden die Anweisung aus dem Vorwort zu ignorieren und nach dem Rezepttext vorzugehen. Es existieren also im Grunde beide Optionen. Eventuell gehe ich beim nächsten Mal so vor.
  • Das Minhāj ist ein medizinisches Werk, das auch Rezepte (so wie damals üblich) beinhaltet. In einer späteren Version des Werkes von Al-Baghdadi wurden Informationen hieraus bei seinen Rezepten ergänzt. In der Übersetzung wurden sie größtenteils herauseditiert und blieben nur vorhanden, wenn sie kulinarischen Bezug hatten - wie hier bei dem Nudelsuppenrezept.
  • Ich habe mich für einen Nudelteig mit Eiern entschieden - meinem Verständnis nach ist hier die Gelingsicherheit bei normalem Weizenmehl mehr gegeben. Wer eine eifreie Version mit anderen Mehlsorten starten will - feel free. Das Nudelrezept ist mein persönlicher Interpretationsspielraum im Rahmen der gegebenen Parameter: ohne Triebmittel, stark geknetet, dünn ausgerollt, in 4 Finger breite, schmale Riemchen geschnitten, kann in Wasser oder zusammen mit dem Fleisch gekocht werden.

Ausgerollter Nudelteig für Rashta - arabische, dicke Nudelsuppe nach einem One-Pot-Rezept aus dem MittelalterHandgemachte Nudeln für arabische Nudelsuppe

Wärmender Eintopf für die Lagerküche

Unabhängig von meinem Interesse als Historikerin und der Gaumenfreude: das Gericht eignet sich tatsächlich hervorragend für die Lagerküche und zum Kochen im Kessel auf offenem Feuer oder in Grapen in der Glut. Wer also Reenactment / Living History betreibt, wird hier ein weiteres Rezept finden, das relativ simpel zu kochen, wärmend und sehr gut sättigend ist.

 

Rezept für Rāshtā - ein dicker Nudeleintopf aus dem Baghdad des 13. Jahrhunderts

(für 4 Personen)
Zutaten für die Rinderbrühe mit Hülsenfrüchten:
600 g Entrecôte
60 g Chana Dal* (geschälte, gespaltene Kichererbsen)
30 g Berglinsen
2,5 TL Meersalz (fein)
2 Zimtstangen
Wasser (700 ml zum Aufsetzen, 1,2 L später für die Nudeln)

Zutaten für die Suppennudeln:
300 g Weizenmehl (Type 405)
3 Eier (M)
2-3 EL Wasser
2 TL Sesamöl
1/2 TL Salz

Zubereitung

  • Die Kichererbsen müssen vorab gewaschen werden und dann 2 Stunden in Wasser einweichen.
  • Das Entrecôte in Stücke mit 2-3 cm Kantenlänge schneiden.
  • Das Fleisch zusammen mit 1,5 TL des Salzes, zweier Zimtstangen, den eingeweichten, abgegossenen Kichererbsen und den gewaschenen Linsen in einen mittelgroßen Topf geben.
  • Mit 700 ml Wasser bedecken und zum Kochen bringen, Verunreinigungen mit einem Schöpflöffel abschöpfen. Deckel aufsetzen und für 1,5 Stunden auf kleiner Flamme köcheln lassen. Ab und an umrühren und prüfen, ob die Kichererbsen schon gar und das Fleisch schon mürbe ist.
  • Währenddessen den Nudelteig zubereiten: Eier, 2 EL Wasser und Sesamöl in einer Schale miteinander verklempern.
  • Mehl mit Salz vermischen, als kleinen Berg auf eine Arbeitsfläche geben und in der Mitte eine Mulde formen.
  • Schrittweise die Eimasse hinzugeben und mit einem Löffel, den Fingern oder einer Gabel nach und nach mehr Mehl vom Rand her nach innen einarbeiten, so dass eine Art dicker Breit entsteht.
  • Mit den Händen nach und nach das gesamte Mehl einarbeiten.
  • Den Nudelteig mit den Händen gut durchwalken, das dauert ca. 10 Minuten. Die Konsistenz sollte am Ende geschmeidig/elastisch, glatt und nicht mehr klebrig sein.
  • Troubleshooting:
    Ist der Teig zu klebrig: löffelchenweise Mehl einarbeiten.
    Ist der Teig zu trocken und krümelig: löffelchenweise Wasser einkneten.
  • Nach dem Kneten den Teig mit einem Tuch abdecken und für 30 Minuten ruhen lassen.
  • Teig in 4 gleichgroße Stücke teilen, jeweils auf bemehlter Arbeitsfläche sehr dünn ausrollen. Währenddessen immer wieder bemehlen und wenden, damit er nicht klebt. Ich habe hierfür ein konisches Nudelholz* verwendet, das meine Eltern mir mal aus Kurdistan mitgebracht haben. Es ist erfekt für dünne Teigfladen/Fladenbrote und ähnelt sehr französischen Teigrollern.
  • Die großen, hauchdünnen Teigfladen nochmals für 15 Minuten auf frischen Küchenhandtüchern ruhen und trocknen lassen.
  • Einen Fladen Nudelteig nehmen und in lange, ca. 8 cm breite Streifen teilen. Bei mir waren das Fladen 3 Stück. Diese aufeinanderlegen, in der Mitte teilen, eine Hälfte bei Seite legen. von der anderen Hälfte ca. 2-3 Milimeter breite und 8 cm lange "Riemchen" herunterschneiden. Zwischendurch immer wieder innehalten und die Nudeln mit den Fingern vorsichtig teilen und durch die Finger aufs Brett "rieseln" lassen und mit etwas Mehl bestäuben, damit sie nicht verkleben. So für den gesamten restlichen Teig weiter arbeiten. Ich hatte am Ende 4 Haufen/Nudelnester. Nochmals Ruhezeit von 10-15 Minuten.
  • 1,2 Liter Wasser zur fertig gekochten Rinderbrühe hinzu geben, restliches Salz hinzufügen, wallend aufkochen lassen und nach und nach die handgeschnittenen Nudeln hineingeben. Immer wieder zwischendrin umrühren, damit sie in der dicken Brühe nicht verklumpen.
  • Für 3-4 Minuten kochen lassen. Wenn sie gar sind, vom Feuer ziehen, nochmals 10 Minuten quellen lassen, dann servieren.

 

Und weil es gerade so schön passt, reiche ich das Gericht noch ganz schnell (und mal wieder super kurz und knapp vor Schluss - inzwischen hat es ja fast schon Tradition) zu Zorras Kochtopf-Blogevent ein. Das Thema in diesem Monat sind Eintopf-Gerichte - alles aus einem Topf - und die Gastgeberin ist Sabine von "Einfach Kochen und mehr".

Rezept für Rashta - mittelalterlicher Nudeleintopf aus BaghdadBi


*Werbung. Afiliate-Links zu Amazon. Bei einem Kauf hierüber erhalte ich eine Vergütung.

Literatur:

Scents and Flavours: A Syrian Cookbook*, Perry, Charles (Übersetzer), New York University Press, New York 2020, ISBN: 978-1479800810

A Baghdad Cookery Book*, Perry, Charles (Übersetzer), Prospect Books, Croydon 2005, ISBN: 978-1903018422

Medieval Arab Cookery*. Essays and Translations by Maxime Rodinson, A.j. Arberry & Charles Perry, Prospect Books, Trowbridge 2006, ISBN: 978-0907325918

Falls dir meine Artikel und Rezepte gefallen, würde ich mich sehr über deinen Support freuen. Ihr könnt mich monatlich via Patreon unterstützen oder mir einfach einen Kaffee via Ko-fi ausgeben. Vielen Dank für deine Wertschätzung meiner Arbeit! 🙂

Buy Me a Coffee at ko-fi.com

Atraf al-tib – eine Gewürzmischung aus dem arabischen Mittelalter

Ich liebe Kräuter und Gewürzmischungen. Meine Hexenküche ist vollgepackt mit den verschiedensten Dosen, Gläschen und Verpackungen - randvoll gefüllt mit wundervollen exotischen Kräutlein und Gewürzen, die nur darauf warten, dass ich sie ihre Magie wirken lasse.

 

Atraf al-tib - eine Gewürzmischung aus dem syrischen Kochbuch "Scents and Flavors" aus dem 13. Jahrhundert

 

Versteht mich aber nicht falsch: Ich liebe simple, erdgebundene Gerichte, die nicht zu überladen daher kommen. Aber hier schon länger Mitlesenden wird aufgefallen sein, dass ich gerne meine eigenen Gewürzmischungen anfertige und beim Kochen darauf zurückgreife.

Ein Foodblog über Essensarchäologie...

Am Wochenende habe ich es endlich geschafft, mein neues Foodblog "Theophanu's Cauldron" mit dem Schwerpunkt historische Nahrung online zu stellen. Und - nicht lachen - ich blogge dort in englischer Sprache. Mal sehen, wie ich es langfristig handhabe, vereinzelt werde ich zumindest versuchen hier die deutschsprachige Version einzusetzen.
Für meinen ersten Artikel habe ich eine wunderbare Gewürzmischung aus dem syrischen Kochbuch "Scents and Flavors"* ("Al-Wusla ila 'l-Habeeb") ausgewählt, welches aus dem 13. Jahrhundert stammt. Ich nutze eine englische Ausgabe in der Übersetzung von Charles Perry, der eigentliche Autor des Werkes ist leider unbekannt. Da ich momentan vorrangig mit "Scents and Flavors" und einem anderen arabischen Kochbuch des 13. Jahrhunderts, dem "Kitâb al Tabîkh" (The Book of Dishes) von Al Baghdadi (als "A Baghdad Cookery Book"* ebenfalls in der Übersetzung von Charles Perry) arbeite, werdet ihr dem Namen noch öfter begegnen. Ich fangirle eher ungerne, das führt meist zu eher ernüchternden Ergebnissen. Aber Perry ist schlicht eine Koryphäe auf seinem Gebiet - er ist zum Beispiel auch beim legendären Oxford Symposium on Food and Cookery sehr aktiv.

 

Atraf al-tib - eine Gewürzmischung aus dem syrischen Kochbuch "Scents and Flavors" aus dem 13. Jahrhundert

 

Rezept für arabische Gewürzmischung aus dem Mittelalter

Verlässt man die eurozentrische Sichtweise, dass es im 13. Jahrhundert ja noch keine Kochbücher gegeben hat und sieht sich die arabische Lebenswelt an, stellt man rasch fest, dass es a) in diesem Zeitraum etliche Werke gibt b) es sogar noch deutlich jüngere Kochbücher gibt und c) hierauf durchaus auch europäische Werke aufbauen. Ein Beispiel hierfür wäre das "Púch von den chósten" ("Speisen auf Reisen"*) ein deutsches Kochbuch bzw. ein medizinisch-diätische Textsammlung aus dem 15. Jahrhundert, die wiederum auf der Übersetzung eines italienischen Medicus aus dem 13. Jahrhundert fußt, dessen Manuskript wiederum auf dem Arzneibuch "Minhaj al-bayan" aus dem 11. Jahrhundert basiert. Verfasst wurde das Minhaj von dem Baghdader Arzt Abu 'Ali Yahya ibn 'Isa b. Jazlah al-Baghdadi aka Ben Gesla (der Link führt zu einem Verkauf eines Buchexemplares bei Southebys und enthält eine Menge an Informationen zum Autor. Leider gibt es ja keinen Wikipedia-Eintrag in einer europäischen Sprache. Ich scheitere da leider an der Sprachbarriere).

Aber ich schweife ab.. Widmet man sich also diesen Kochbüchern, speziell dem Scents and Flavors, stolpert man da des öfteren über eine Würzung namens "mixed spices". So ominöse Angaben sind in mittelalterlichen Kochbüchern nicht ungewöhnlich, die Autor*innen gehen vom Wissensstand der Zeit aus. In diesem Moment weiß man halt, was da so regulär rein wandert. Kann ja keiner ahnen, dass wir uns da Jahrhunderte später nen Kopp drum machen. 😅 Erst dachte ich, dass ich hier vielleicht die Mischung für ein Kräutersalz nehmen kann, dass ich in Anlehnung an ein Rezept aus dem Kitâb al Tabîkh zusammengestellt hatte. Im Glossar stieß ich dann aber auf diese Anmerkung Perrys:

Er benennt hierfür verschiedene Gewürze, wie Indische Narde, Betelnuss, Lorbeerblätter, Muskatnuss, Macis, Kardamom, Nelken, Hagebutten, Eschenfrüchte, Langen Pfeffer, Ingwer und schwarzen Pfeffer, allesamt einzeln gemörsert. ("spikenard, betel nut, bay leaf, nutmeg, mace, cardamom, clove, rose hips, ash tree fruits, long pepper, ginger and black pepper, all pounded seprately" (c. 4.4) )

Ich vermute, dass Atraf al-tib so ähnlich war wie das heutige Baharat (arab. "Gewürze"): Eine Würzmischung, die du eben bei dem Gewürzhändler deines Vertrauens gekauft oder nach familiärem Spezialrezept in der heimischen Küchen zusammengeklöppelt hast.
Für meine Version habe ich die Basiszutaten genommen und nach eigener Vorliebe um Kräutlein erweitert.

 

Mixed spices: Gewürzmischung "Atraf al-Tib" aus dem arabischen Hochmittelalter

 

Und an diesem Punkt stellte ich erschreckt fest, dass ich - basierend auf meinen Erfahrungen mit der arabischen Küche - auf den ersten Blick eine falsche Annahme getroffen hatte, da ich Rosenblätter statt der ungewöhnlicheren Hagebutten genommen hatte. Ich hatte die Zutat in einer Art Freudscher Fehlleistung in meinem Kopf schlicht falsch übersetzt (rose hips/rose buds). Aber wie man hier sehen kann, bin ich nicht die Einzige, die sich hier Fragen zu Hagebutten stellt. Wie mir inzwischen zugetragen wurde, haben die anderen 2 Übersetzer*innen des Textes ebenso wie ich gehandelt. Die aus dem Irak stammende Nawal Nasrallah, die unter anderem das Buch "Annals of the Caliph's Kitchens" verfasst hat, hat die Textstelle mit Rosenknospen übersetzt. Aufgrund des Tipps stieß ich in ihrem Buch Delights from the Garden of Eden (Glossary: Baharat, Seite 414) auf Rosenknospen in ihrer Übersetzung der Primärquelle und ihre Sichtweise, dass Atraf al-tib (oder Atraf al-teeb) ein Vorläufer des irakischen Baharat (Ha!) ist.

Aber zurück zu den Hagebutten als Gewürz. Bis jetzt sind mir Hagebutten noch nicht in arabischen Rezepten untergekommen, aber in Deutschland kennen wir ja Hiffenmark - eine seeeehr spezielle Sorte von Konfitüre, mit der in einigen Landesteilen auch Berliner Pfannkuchen gefüllt werden. Und wir alle kennen Hagebutten aus rotem Früchtetee (Na? Wer hat hier ein "roter Tee"-Trauma aus dem Schullandheim mitgebracht? Ich hatte Glück und mochte das Zeug, das in den verbeulten Metallkannen serviert wurde, immer recht gern). Hagebutten haben einen sehr hohen Anteil an Vitamin C und schmecken ziemlich säuerlich. Was mich vermuten lässt, dass sie als Gewürz eine ähnliche Geschmackseigenschaft wie Sumak* besitzen könnten.
Also entweder probiert ihr meine duftigere Variante mit Rosenblättern (die ja doch nicht so falsch ist, siehe weiter oben) oder ihr ersetzt diese durch 1 TL Sumak, bzw. besorgt euch getrocknete Hagebuttenschale und testet es damit aus - was ich sicherlich noch tun und hier ergänzen werde.
Ich habe diese Irrungen und Wirrungen hier dokumentiert, weil meiner Ansicht nach Überlegungen, Hinzulernen und Selbstreflexion zu unbewussten Annahmen zu einem transparenten wissenschaftlichen Prozess hinzugehören und eben eines sind: lebendige Forschung.

Ich mahle größere Mengen Gewürze übrigens nicht mehr stilecht im Mörser, sondern nehmen (zumindest, wenn ich daheim in einer modernen Küche bin) meine elektrische Kaffeemühle*, die einen entnehmbaren Mahlbecher hat. Entschuldigt, wenn ich euch da enttäusche, aber eure Handgelenke werden es mir danken. 😁

Ich empfehle euch zudem wirklich, so weit als möglich, die Gewürze frisch zu mahlen. Es ist einfach ein besseres Aroma. Der Duft von frisch gemahlenem Kardamom ist halt unvergleichlich und ungleich tiefgründiger. Mein Atraf al-tib habe ich bis jetzt für Gemüsegerichte, Dressings und als Gewürzbutter, die vor dem Braten auf das Hähnchenfleisch gestrichen wird, für Broiler eingesetzt.

 

Gebratenes Huhn mit Gewürzbutter

 

Rezept für Atraf al-tib

2 TL getrocknete Rosenblüten/Blätter von Rosenknospen (fein gemahlen)
1 TL grüne Kardamomsaat* (fein gemahlen)
1 TL getrockneter Ingwer (fein gemahlen)
1 TL schwarzen Pfeffer (fein gemahlen)
1 TL Langer Pfeffer* (fein gemahlen)
3/4 Macis (fein gemahlen)
3 Lorbeerblätter (fein gemahlen)
10 Gewürznelken (fein gemahlen)

Zubereitung

  • Alle fein gemahlenen Gewürze in eine Schüssel geben und gründlich miteinander vermischen.

 

  • Die arabische Gewürzmischung in ein gut schließendes Vorratsgefäß geben. Fertig. (Kein großes Hexenwerk, nur eine ellenlange Einleitung. 😅)

 


*Werbung. Afiliate-Links zu Amazon. Bei einem Kauf hierüber erhalte ich eine Vergütung.

Literatur:

Scents and Flavours: A Syrian Cookbook*, Perry, Charles (Übersetzer), New York University Press, New York 2020, ISBN: 978-1479800810


Delights from the Garden of Eden* (abbv., second edition): A Cookbook and History of the Iraqi, Nasrallah, Nawal, Equinox Publishing Ltd, Sheffield, 2018, ISBN: 978-1781798836

Falls dir meine Artikel und Rezepte gefallen, würde ich mich sehr über deinen Support freuen. Gib mir doch nen Kaffee via Ko-fi aus. Vielen Dank für deine Wertschätzung meiner Arbeit! 🙂

Buy Me a Coffee at ko-fi.com

Hallo, liebe*r Leser*in,
schön, dass du hier bist! Du willst mehr lesen? Hier kannst du dich zu meinem Newsletter anmelden: